Migräne-Therapie: Der 10-Punkte-Plan

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Jeder Erkrankte ist einzigartig. Jede Migräne aber auch. Wer an Migräne leidet, benötigt die individuell bestmögliche Behandlung. Diese fängt schon bei der Diagnosestellung an. In einer kürzlich erschienenen Publikation schlagen Expert:innen vor, was für eine erfolgreiche, umfassende Therapie wichtig ist. Wir zeigen Ihnen, worauf es ankommt.

Zehnstufiger Ansatz für eine effiziente Behandlung

Migräne ist eine hochgradig einschränkende neurologische Störung, von der weltweit mehr als 1 Milliarde Menschen betroffen sind.1 Neben der Verschlechterung der Lebensqualität leiden Betroffene häufig auch unter Depressionen2 oder an den Folgen des sogenannten Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes.3 Viele Menschen, die unter Migräne leiden, fühlen sich zudem stigmatisiert. Hinzukommt, dass Betroffene sich meist von ihrem sozialen Umfeld nicht verstanden fühlen.4 Aus diesem Grund haben Migräne-Expert:innen einen zehnstufigen Ansatz entwickelt, der den neuesten Stand der Migränebehandlung zusammenfasst.5

In diesem stellt das internationale Gremium typische Diagnosemerkmale sowie bewährte Verfahren für Akuttherapie und Prävention der Migräne vor. Darüber hinaus gibt es Empfehlungen für die Bewertung des Behandlungserfolgs – unabhängig davon, ob sich durch die Therapie eine Verbesserung der Lebensqualität oder eine Reduzierung der Kopfschmerztage einstellt. Auch werden die Behandlung von Komorbiditäten sowie die Planung der langfristigen Nachsorge erörtert.

 

Der 10-Punkte-Plan*: Handlungsempfehlung zur Migränebehandlung und Therapie

  • DIAGNOSE

1.Migräne erkennen: Wiederkehrende mittelschwere bis starke Kopfschmerzen oder ein Migränefall in der Familie, Aura, Beginn der Symptome mit Pubertät. Differentialdiagnose transitorische ischämische Attacke (TIA): Aura in der Regel graduelle Ausbreitung, TIA in der Regel abrupt

2. Diagnose im Detail: Nur eine ausführliche Anamnese führt zu einer erfolgreichen Behandlung. Berücksichtigen Sie auch Differentialdiagnosen und schließen Sie andere Ursachen aus. Notwendigkeit einer Bildgebung: Zur Abklärung sekundärer Kopfschmerzen MRT gegenüber CT bevorzugen, da hohe Bildauflösung gegeben und keine Exposition gegenüber ionisierenden Strahlen

3. Patient = Mittelpunkt: Aktivieren Sie Betroffene: Setzen Sie realistische Ziele und verwenden Sie Hilfsmittel wie Migränetagebücher und Kopfschmerzkalender. Prädisponierende und Trigger-Faktoren sollen berücksichtigt werden, sind aber – im Gegensatz zur weit verbreiteten Annahme – häufig von begrenzter Bedeutung, mit Ausnahme der Menstruation.

 

  • BEHANDLUNG

4. Passende Akutmedikation: Medikationen lassen sich in unterschiedliche Kategorien einteilen und sollten abgestuft eingesetzt werden: 
      - First-line: freiverkäufliche Analgetika (NSAIDs)
      - Second-line: Triptane
      
- Ergänzende Medikamente gegen Übelkeit und/oder Erbrechen: Prokinetische Antiemetika
      - Zu vermeiden: Opioide und Barbiturate

Orientieren Sie sich hier an den S1-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.6 Vorsicht vor Medikamentenübergebrauch!

5. Präventive Maßnahme: Wählen Sie zusätzlich eine präventive Therapie bei Patient:innen, deren Lebensqualität trotz Akuttherapie beeinträchtigt bleibt.
 (z. B. Betablocker, Antikonvulsiva, Antidepressiva, Kalzium-Antagonisten, Botulinumtoxin, CGRP-Antikörper – Bitte Leitlinie & Erstattungssituation beachten) Erfolgsmessung: Prozentuale Reduktion der monatlichen Migräne- oder Kopfschmerztage und deren Intensität. Nicht-medikamentöse Verfahren adjuvant, oder als stand-alone wenn Medikamente kontraindiziert sind: nicht-invasive Neurostimulation, Verhaltenstherapie und Akupunktur

6. Zielgruppe beachten: Achten Sie beim Umgang mit Migräne auf besondere Patient:innengruppen: ältere Menschen, Kinder und Jugendliche, Schwangere oder Stillende, Frauen mit menstrueller Migräne. Komorbiditäten bei älteren Patient:innen bedenken.

 

  • MANAGEMENT UND FOLLOW-UP

7. Behandlung bewerten: Nutzen Sie zur Auswertung Kopfschmerzkalender und überprüfen Sie bei suboptimalen Ergebnissen nochmals Ihre Strategie. Überweisen Sie notfalls an eine Spezialistin bzw. einen Spezialisten. Die wichtigsten Messgrößen für die Wirksamkeit sind die Häufigkeit und der Schweregrad der Anfälle sowie migränebedingte Einschränkungen.

8. Komplikationen aktiv angehen: Seien Sie wachsam bei übermäßigem Medikamentengebrauch. Um eine chronische Ausprägung zu verhindern, berücksichtigen Sie die anerkannten Risikofaktoren wie z. B. hohe Kopfschmerzhäufigkeit, unzureichende Behandlung, aber auch Komorbiditäten wie Depression, Angstzustände und Übergewicht. Aufklärung: Chronische Migräne-Patient:innen müssen über die Risikofaktoren informiert werden, um ihren Lebenswandel entsprechend anzupassen.

9. Komorbiditäten erkennen: Identifizieren und behandeln Sie Erkrankungen, die mit der Migräne einhergehen können, zum Beispiel Angstzustände, Depressionen oder Schlafstörungen. Übergewicht ist ein Risikofaktor für chronische Migräne, Migräne mit Aura kann bei Frauen mit kardiovaskulären Ereignissen verbunden sein.

10. Nachsorge planen: Ein umfassender Behandlungsplan kann dabei helfen, den Therapieerfolg beizubehalten. Rücküberweisung in hausärztliche Versorgung: Bei Patient:innen unter präventiver Therapie, wenn anhaltende Wirksamkeit für bis zu 6 Monate ohne wesentliche behandlungsbedingte unerwünschte Wirkungen erreicht ist.

* Eigenbrodt AK et al. Diagnosis and management of migraine in ten steps. Nat Rev Neurol 2021

 

 

Dank Hilfsmitteln vom Betroffenen zum Manager

Eine effektive Behandlung von Migräne beginnt bereits mit der Anamnese. Demnach sollte eine mögliche Migräneerkrankung bereits in Betracht gezogen werden, wenn wiederholt mittelschwere bis starke Kopfschmerzen auftreten. Leidet die Betroffene oder der Betroffene auch an einer Aura? Gibt es in der Familienhistorie oder in der Verwandtschaft bereits einen Fall von Migräne? Diese und weitere Hinweise können für die spätere Diagnose nützlich sein. Ergänzend zur Abklärung der Krankenhistorie zählen laut den Expert:innen neben der körperlichen auch weitere Untersuchungen wie z. B. die Blutabnahme, um andere Kopfschmerzursachen ausschließen zu können.

Das Gremium empfiehlt zudem verschiedene Hilfsmittel für die Diagnostik. Kopfschmerztagebücher und Kopfschmerzkalender sind hierbei wichtige Werkzeuge, sowohl für Behandelnde als auch für Betroffene. Wann treten Kopfschmerzen auf? Wie häufig treten diese auf? Lassen sich Muster oder Wiederholungen identifizieren? Bei diesen Hilfsmitteln sind 2 Faktoren entscheidend für den Therapieerfolg: Zum einen der frühzeitige Einsatz in der Therapie, um die richtige Diagnose stellen zu können. Und zum anderen, dass die Patient:innen die zur Verfügung gestellten Hilfsmittel aktiv nutzen. Denn sie können dabei helfen, Betroffene zu Managern der eigenen Erkrankung zu machen.

 

Persönliche Lebensumstände beachten und gezielt aufklären

Entscheidend für die eigene Therapie ist es, den Bedarf an notwendigen Behandlungen zu kennen: Benötigt die betroffene Person neben einer medikamentösen Behandlung noch eine andere? Dies setzt voraus, dass Behandelnde ihre Patient:innen und deren Bedürfnisse genau kennen. Wurde die Diagnose gestellt, werden weitere persönliche Faktoren relevant, deren Erkenntnisse bei der Wahl der Therapie entscheidend sind, denn sie bilden die Basis für eine patientenzentrierte Behandlung – ein essenzieller Baustein für den Therapieerfolg.

Ein weiterer Baustein ist die Aufklärung der Patient:innen über die Therapie: Hintergrundwissen zu wichtigen Eckpunkten, zum Ablauf und ggf. negativen Folgen sowie unerwünschten Nebenwirkungen, befähigt die Patient:innen aktiv an der Behandlung teilzunehmen. Nur wenn Betroffene wissen, wann und wie sie ihre Medikamente einnehmen müssen, oder was passiert, wenn bestimmte Medikamente zusätzlich eingenommen werden, kann eine langfristige und ganzheitliche Therapie gelingen. Dabei können verschiedene Hilfsmittel wie online verfügbare Podcasts, Erklärvideos oder Infoflyer zum Einsatz kommen:

 

  • Empfehlungen für eine patientenzentrierte Behandlung:
  1. Bieten Sie Ihren Patient:innen eine umfassende Aufklärung an und erläutern Sie grundsätzliche Schritte der Therapie. Wichtig: Bleiben Sie immer offen für Rückfragen und zeigen Sie klar die Grenzen der Therapie auf.
  2. Berücksichtigen Sie bei der Wahl der jeweiligen Therapie auch die prädisponierenden und auslösenden Faktoren der Betroffenen.
  3. Echte Triggerfaktoren sind oft von selbst erkennbar.
  4. Orientieren Sie sich bei der Medikation an dem Prinzip der Stufentherapie: Eine Orientierung finden Sie auch in den Leitlinien.

 

Auf dieser Basis können Ärzt:innen individuelle Behandlungsziele definieren und diese mit den Betroffenen vor Beginn der Therapie besprechen. So können sich Patient:innen ein realistisches Ziel hinsichtlich des Rückgangs der Migränetage setzen. Falsche Erwartungen lassen sich so vermeiden.

 

Langfristige Nachsorge erforderlich

Damit die Therapie nachhaltig erfolgreich sein kann, heben die Expert:innen die Bedeutung einer langfristigen Nachsorge hervor. Diese stellt sicher, dass die Wirksamkeit einer Therapie auf einem stabilen Level gehalten werden kann. Die Expert:innen betonen dabei, dass mit einer Nachsorge keine routinemäßigen Praxisbesuche gemeint sind. Vielmehr geht es darum, Betroffene durch Aufklärung in ihrem Selbstvertrauen zu stärken und damit ihre Selbstwirksamkeit zu fördern. Dadurch sollen Patient:innen im besten Fall selbst entscheiden können, ob ein Praxisbesuch nötig ist.

Referenzen

  1. Ashina M et al. Migraine: epidemiology and systems of care. Lancet 2021 Apr 17; 397 (10283): 1485-95.
  2. Haag G. (2014) Individualmedizinische Relevanz von Kopfschmerzen. Bundesgesundheitsblatt 57(8):940–945.
  3. Schwedt TJ et al. Headache characteristics and burden from chronic migraine with medication overuse headache: Cross-sectional observations from the Medication Overuse Treatment Strategy trial. Headache 2021 Feb;61(2):351-362.
  4. Lamp C et al. Interictal burden attributable to episodic headache: findings from the Eurolight project. J Headache Pain 2016;17:9.
  5. Eigenbrodt AK et al. Diagnosis and management of migraine in ten steps. Nat Rev Neurol 2021.
  6. Diener HC et al. Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.). Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne. S1-Leitlinie 2018. http:// www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 27.08.2021).