Home sweet home: Selbständiges Wohnen bei schweren psychischen Erkrankungen

Raus aus der Langzeitverwahrung in Kliniken, rein ins häusliche Umfeld: Rund 50 Jahre ist es inzwischen her, dass die Psychiatrie-Enquête eine radikale Verbesserung der Versorgungssituation psychisch kranker Menschen in Deutschland einläutete.1 Seitdem wurde eine Vielzahl neuer ambulanter Angebote, insbesondere für schwer und/oder chronisch psychisch Erkrankte etabliert. Dabei immer fest als Ziel im Blick: Eine soziale und ggf. auch berufliche Rehabilitation bestmöglich zu fördern – für ein möglichst stabiles, autarkes Leben außerhalb von Kliniken und stationären Wohnformen. Es zeigt sich, dass die Betreuung in selbstständigen Wohnformen dabei ähnlich effektiv sein kann, wie beispielsweise eine Unterbringung in einem Wohnheim.2 Wie insbesondere spezielle integrierte Versorgungsmodelle Selbstständigkeit und Stabilität nachhaltig fördern können, zeigt unter anderem der Blick auf das „Hamburger Modell“ für Menschen mit schweren psychotischen Erkrankungen.

test Bis heute leben in Deutschland etwa 50.000 Menschen mit seelischer Behinderung in Wohnheimen. Der überwiegende Teil schwer und/oder chronisch psychisch Erkrankter wird inzwischen jedoch in ambulanten Strukturen betreut, die ein selbstständiges Wohnen ermöglichen und unterstützen.3 Die Angebote für eine kontinuierliche Versorgung und Begleitung insbesondere in selbstbestimmten Wohnformen unterliegen dabei einem nach wie vor andauernden Ausbau und Wandel mit dem Ziel einer weiteren Verbesserung der Versorgungssituation. Dies trägt auch der UN-Behindertenrechtskonvention, die das Recht auf stabile Wohnverhältnisse und auf eine aus der Behinderung resultierende notwendige Unterstützung auch für psychisch Kranke verankert, Rechnung.3

Teilhabe, Integration und Selbständigkeit fördern

Die vielfältigen und unterschiedlichen Maßnahmen verfolgen dabei die gleichen zentralen Ziele: Eine verbesserte Teilhabe sowie Förderung der Integration und Selbstständigkeit der Betroffenen. Die Datenlage zu den vielfältigen verfügbaren Maßnahmen ist dabei nicht immer eindeutig, doch es konnte für verschiedene Formen der Versorgung in selbständigen Wohnformen eine Nicht-Unterlegenheit im Vergleich zu einer Unterbringung in Wohnheimen gezeigt werden.2 Für die PatientInnen hat eine Betreuung im eigenen Wohnraum verschiedene Vorteile im Vergleich zu Wohnheimen4 :

  • Über eine eigene Wohnung zu verfügen ist mit einem Mehr an Autonomie sowie Empowerment verbunden und kann die Genesung fördern.
  • Einem im Rahmen der Erkrankung wechselnden Betreuungsbedarf kann in einer gleichbleibenden Umgebung ohne zeitliche Begrenzung entsprochen werden.
  • Die PatientInnen können alltagsrelevante Fähigkeiten im eigenen Haushalt, außerhalb eines z. B. klinischen Settings, erlernen.

Dabei immer als Ziel der Betreuung in einer selbstständigen Wohnform im Blick: Eine verbesserte soziale bzw. gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion.3,4

Das „Hamburger Modell“: Erfolgreiches integriertes Versorgungsmodell für Menschen mit Psychose

Wie eine intensive Betreuung aufbauend auf dem Konzept des sogenannten Assertive Community Treatments (ACT) erfolgreich gestaltet werden kann, zeigt ein Blick nach Hamburg: Beim „Hamburger Modell“ handelt es sich um ein evidenzbasiertes integriertes Versorgungsmodell für schwer erkrankte PsychosepatientInnen. Seit 2007 wird es durch die Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) im Rahmen der Integrierten Versorgung nach § 140 SGB V angeboten und in Kooperation mit verschiedenen Krankenkassen pauschal vergütet.5 Kernbestandteil des Modells ist eine die PatientInnen in Ihrem Wohnumfeld aufsuchende, intensive und langfristige Behandlung in Form eines modifizierten und an die speziellen Bedürfnisse des PatientInnenklientels angepassten ACT. Die Betreuung wird durch ein multiprofessionelles, auf psychotische Erkrankungen spezialisiertes Team mit niedriger BehandlerInnen-PatientInnen-Ratio, 24-stündiger Erreichbarkeit und settingübergreifender Behandlungskontinuität gewährleistet. Neben psychiatrischer und psychotherapeutischer Betreuung kommen u. a. Maßnahmen wie Psychoedukation, Familieninterventionen, Maßnahmen zur sozialen Unterstützung (Schule, Ausbildung, Beruf, Wohnen, Finanzen) unter Zuhilfenahme von Soziotherapie zum Einsatz. Je nach Krankheitsphase und individueller Lage können sämtliche ambulante, teilstationäre oder bei Bedarf auch stationäre Angebote des UKE in Anspruch genommen werden.5
Im Vergleich zur Regelversorgung konnten folgende Vorteile des Hamburger Modells nachgewiesen werden:

  • Deutlich niedrigere Behandlungsabbruchrate5,6
  • Größere und anhaltende Verbesserungen von Symptomen5,6
  • Größere Verbesserungen der Arbeitsfähigkeit5,6
  • Größere Verbesserungen der Lebensqualität5,6
  • Weniger Rückfälle und Krankenhausbehandlungen5,6
  • Deutlich weniger Zwangseinweisungen5,6
  • Deutlich höhere ambulante Kontaktfrequenz5
  • Hoher Anteil von Patienten in Einzel- und /oder Gruppenpsychotherapie5
  • Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich höhere Chance auf Remission von Symptomen und Verbesserung des Funktionsniveaus7
  • Niedrigere Kosten8

Inzwischen wurde das Hamburger Modell auch erfolgreich ausgeweitet und DBT-basiert für Menschen mit emotional instabiler Persönlichkeitsstörung (Borderline) adaptiert.9

PatientInnenpräferenz als entscheidender Faktor

Ambulante und die PatientInnen in ihrem Wohnumfeld aufsuchende Versorgungsmodelle können somit eine effektive Betreuung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in selbstständigen Wohnformen gewährleisten und so die soziale Teilhabe fördern, Rückfällen und stationären Aufenthalten vorbeugen – und so die Lebensqualität verbessern.2,5 Eine Begleitung, Betreuung und Unterstützung in selbstbestimmten Wohnformen sollten daher die erste Wahl sein. Eine Versorgung in teilweise selbstverantworteten oder stationären Wohnheimen bzw. -formen sollte immer mit dem Ziel der Rückkehr in eine selbstbestimmte Wohnform eingesetzt werden.3 Bei der Wahl der Betreuungsform sollte immer auch die PatientInnenpräferenz entscheidend sein.3 Der Wunsch nach einer möglichst unabhängigen Wohnform ist bei der Mehrheit der PatientInnen gegeben.4 Die Chance, selbst über die eigenen Wohnverhältnisse zu entscheiden ist dabei mit einer höheren subjektiven Lebensqualität assoziiert und kann einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden leisten.4 Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, die in einer institutionalisierten Wohnform wohnen, sollte bei entsprechender Präferenz daher der Wechsel in eine selbstbestimmte, eigenverantwortete Wohnform ermöglicht werden.3

 

Referenzen

  1. Häfner H. Psychiatriereform in Deutschland. Vorgeschichte, Durchführung und Nachwirkungen der Psychiatrie-Enquête. Ein Erfahrungsbericht. Heidelberger Jahrbücher Online 1. 2016:119-114.
  2. Richter D, Hoffmann H. Independent housing and support for people with severe mental illness: systematic review. Acta Psychiatr Scand. 2017;136(3):269-279.
  3. Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) (Hrsg.). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankun-gen. AWMF-Register Nr. 038-020. Online verfügbar unter: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038-020l_S3_Psychosoziale_Therapien_bei_schweren_psychischen_Erkrankungen_2019-07.pdf (letzter Abruf: 25.04.2022).
  4. Adamus C et al. Independent Housing and Support for nonhomeless individuals with severe mental illness: randomised controlled trial vs. observational study – study protocol. BMC Psychiatry. 2020;20(1):319.
  5. Lambert M et al. Integrierte Versorgung für erst- und mehrfacherkrankte Patienten mit schweren psychotischen Erkrankungen. Bundesgesundheitsbl. 2015;58(4-5):408-419.
  6. Lambert M et al. Langzeittherapie in der Schizophrenie. Erfolgreiche psychosoziale Re-Integration durch Integrierte Versorgung. Psychopharmakotherapie 2016; 23: 58-66.
  7. Lambert M et al. Early detection and integrated care for adolescents and young adults with psychotic disorders:the ACCESS III study. Acta Psychiatr Scand. 2017;136(2):188-200.
  8. Karow A et al. Better care for less money: cost-effectiveness of integrated care in multi-episode patients with severe psychosis. Acta Psychiatr Scand 2020:141: 221-230.
  9. Schindler A et al. Integrierte Versorgung für Borderline-Patient*innen. Psychotherapie Forum. 2020; 24:131-138.